Impuls zum 22. Dezember 2024
Gottes Liebesgeschichte mit den Menschen
1. Lesung: Mich 5,1-4a
2. Lesung: Hebr 10,5-10
Evangelium nach Lukas 1,39-47
In jenen Tagen machte Maria sich auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa. Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth. Und es geschah, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabeth vom Heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, in dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Und selig die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ. Da sagte Maria: Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinem Retter.
Die Geschichte Gottes mit den Menschen kann man unter ganz verschiedenen Bildern beschreiben. So kann man die Geschichte Gottes mit den Menschen beschreiben als eine Geschichte von Sünde und Schuld, von Opfer und Sühne, von Tod, Gericht und Verdammung. Das war lange die herrschende Verkündigung. Aber dann wird die Frohbotschaft zur Drohbotschaft. So haben es viele empfunden.
Man kann die Geschichte Gottes mit den Menschen aber auch beschreiben - und das ist, so meine ich, eine lange vernachlässigte Sichtweise - als die große Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen. Gott hat den Menschen aus Liebe geschaffen als Mann und Frau, nach seinem Bild. Die Liebe der Menschen untereinander sollte ein Bild seiner Liebe sein. Stattdessen bestimmten aber oft Ungehorsam und Mord das Miteinander der Menschen. Gott leidet unter der Schuld der Menschen, gibt sie aber nicht auf. Er wählt sich sein Volk aus, damit es zeichenhaft in seiner Geschichte die Liebe Gottes zu allen Völkern deutlich mache. Als das Volk ihn verlässt, verlässt er es nicht. Er bleibt in seiner Liebe treu in guten und in bösen Stunden. Als äußerstes Zeichen seiner Liebe sendet er seinen Sohn. Jesus wird er genannt: In Gott ist Heil, heißt dieser Name.
Im heutigen Evangelium begegnen sich Maria und Elisabeth, zwei Angehörige des auserwählten Volkes, zwei Jüdinnen: Wir sollten das nicht vergessen! Ihre Begegnung ist Zeichen und Ausdruck der Zärtlichkeit und Freude in dieser Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen. Die beiden Frauen sind dabei seine Partnerinnen. Die eine sehnte sich schon lange nach einem Kind. Jetzt erwartet sie es dank der Verheißung Gottes. Die andere war überrascht von Gottes Liebesinitiative. „Wie kann dies geschehen?“ fragt sie erschrocken zurück. Ich? Warum gerade ich? Aber dann hat sie Ja gesagt mit ihrem mutigen, vertrauensvollen Herzen.
Jetzt begegnen sie sich. Beide tragen die Boten des Heiles in ihrem Leib: Johannes und Jesus. Sie sollen die frohe Botschaft ausrichten, dass Gott die Menschen nicht verlassen hat, sondern retten will. Johannes und Jesus werden diese Botschaft mit ihrem Leben und Sterben bekräftigen und verwirklichen. Die ganze Heilsgeschichte, die ganze Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen ist gegenwärtig in diesen beiden Frauen, die voll Hoffnung sind. Beide riskieren mit ihrem antwortenden Ja viel, letztlich ihr ganzes Leben. Aber so ist das in einer Liebesgeschichte. Unter diesem Preis gibt es keine Liebe. Wahre Liebe riskiert das eigene Leben. Darauf wartet Gott. Er will nicht Marionetten seiner Macht, sondern Partnerinnen seiner Liebe. So wird die Liebe Gottes und dieser beiden Frauen fruchtbar in diesen beiden Kindern: Johannes und Jesus. Wozu die beiden Frauen Ja gesagt haben, das bestimmt ihre ganze Zukunft. Die beiden können noch nicht ahnen, wie es mit ihnen und ihren Söhnen sein wird, wie Johannes und Jesus sterben werden. Doch voll Vertrauen begegnen sie einander in Jubel und Dank.
Maria kommt, um Elisabeth beizustehen. Sie kommt aber auch, um das Zeichen zu sehen, das ihr angekündigt worden ist. Bei der Begegnung regt sich Johannes im Schoß seiner Mutter Elisabeth. Beide Frauen wissen um das Geheimnis der Liebe, das ihnen geschenkt worden ist. Das verbindet sie miteinander. Die ganze Zärtlichkeit und Kraft dieser beiden Frauen wird in dieser Begegnung deutlich, das Vertrauen, mit dem sie sich einander anvertrauen, mit dem sie gemeinsam Gott vertrauen, der ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder lenken wird. Vertrauen auf den unbegreiflichen Gott! Warum gerade sie? Wie kommt Gott dazu, gerade sie auszuwählen? Ja, das ist eben die Weise der Liebe, die man nie endgültig versteht und deren Gründe man nie enträtseln kann, auch unter Menschen nicht: Warum liebt mich meine Frau, mein Mann? Wir werden es nie verstehen, insbesondere nicht, wenn es um die Liebe zwischen Gott und den Menschen geht! Wie kann Gott so sein, wie er ist?
Maria und Elisabeth halten sich nicht bei ihren Fragen auf, auch wenn sie noch keine Antwort kennen. Sie rühmen nicht sich selbst, sondern preisen gemeinsam Gott und seine Liebe. Sie staunen und sind dankbar. Eine andere Antwort gibt es nicht. Alle Worte sind da nur ein Stammeln.
Wir sind eingeladen, auch unsere eigene Liebeserfahrung als Bild der Liebe Gottes zu den Menschen, als seine Liebe zu uns zu deuten und zu erahnen, weil wir sie nie begreifen und ergründen können. Unsere Liebe mit all ihrer Lust und Leidenschaft, mit all ihrem Schmerz und ihrem Leid ist Bild der Liebe Gottes selbst. Darin kann es Schuld und Versagen geben, aber auch Versöhnung und neuen Anfang! Dafür sind uns diese beiden Frauen und ihre beiden Söhne, Johannes und Jesus, Zeuginnen und Zeugen! Warum hat man uns diese Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen so lange verschwiegen?
Warum endet das heutige Evangelium mit der ersten Zeile des Magnificat? Dieses Lied Mariens kommt in keiner Sonntagperikope vor! Das ist mir völlig unverständlich. Gerade am 4. Adventssonntag hat dieses Lied seinen Platz, weil es den besingt, dessen Geburt wir Weihnachten feiern. So sei es hier angefügt:
Meine Seele preist die Größe des Herrn
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.
Seihe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.
Denn der Mächtige hat Großes an mir getan
und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht
über alle, die ihn fürchten.
Er vollbringt mit seinen Arm machtvollen Taten:
er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;
er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er nimmt sich seines Knechtes Israel an
und denkt an sein Erbarmen
das er unseren Vätern (und Müttern) verheißen hat,
Abraham und seinen Nachkommen auf ewig. (Lk 2,47-55)
Das Großartige an dieser Begegnung: Elisabeth und Maria denken nicht nur an sich und ihre Erwählung. Sie bleiben nicht dabei stehen. Die ganze Welt, alle Menschen, auch wir selbst kommen dabei in ihren Blick. Maria, das haben uns die Leute in Brasilien bei unseren Besuchen gesagt, Maria ist das Mädchen aus der Favela, dem Elendsviertel nebenan. Da fängt Gott an, die Erniedrigten zu erhöhen, ihnen ihre Würde wieder zurückzugeben, sie einzubeziehen in seine Liebe zu allen Menschen.
Horst Goldstein, leider zu früh verstorbener Freund und Übersetzer von Gustavo Gutierrez und Leonardo Boff und Vermittler der Befreiungstheologie hier in Deutschland, hat uns einmal erzählt, dass die Zensoren der Militärdiktatoren in Chile und Argentinien das Magnificat bei öffentlichen Kundgebungen gestrichen haben. Diese Zensoren haben begriffen, welche Dynamik hinter diesem Lied steckt. Die Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen wir zur gewaltfreien Revolution, zur Veränderung dieser Welt und ihrer Unordnung, wenn sich Menschen darauf einlassen. Maria und Elisabeth: sie sind wie Bilder unserer selbst, wie wir in unserer Hoffnung und Liebe unterwegs sind in unserem Leben, einander begegnen und die Liebe weiterschenken. So feiern wir den Advent unseres Lebens.
Maria singt in ihrem Magnificat nicht nur von ihrer eigenen Erwählung. Sie singt auch von den Kleinen, die erwählt werden, von den Armen und Erniedrigten, die erhoben werden, von den Hungrigen, die satt werden. Damit hat Gott bei ihr angefangen! Aber das betrifft alle Kleinen, Niedrigen, Unterdrückten, Armen, die Frauen zuerst! Das sollte gelten für seine Kirche und die ganze Gesellschaft! Frohe Botschaft der Befreiung für die meisten Menschen heute! Die Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen ist noch nicht zu Ende! Wir stehen mitten darin, von seiner Liebe angesprochen und eingeladen. Auch unsere Kräfte sollen fruchtbar werden für das Leben der Menschen.
Gebet
Gott,
wie unsinnig ist doch deine Liebe zu den Menschen!
Du siehst doch, wie wir immer wieder versagen.
Dennoch lässt du uns nicht fallen,
gibst uns nicht auf.
Meinst du, morgen würde es besser mit uns?
Gott,
wie sinnvoll ist doch deine Liebe zu uns Menschen!
Wie könnten wir sonst aufatmen und wieder neu anfangen,
immer wieder?
Wie könnten wir sonst selber lernen und leben,
was Liebe bedeutet?
Schau uns an,
wie du Maria und Elisabeth angeschaut hast,
und wecke die Kräfte, die du in uns hineingelegt hast,
zu neuem Leben.
Dann werden wir einander in deinem Geist begegnen:
Die Erniedrigten werden erhöht und die Hungernden satt,
die ihrer Würde Beraubten werden leben als Menschen.
Dir sei Dank für deine unsinnige Liebe,
von der wir leben trotz unserer Schuld.
Dir sei Dank für das Stammeln und Stottern unserer Liebe.
Sie lässt uns etwas ahnen von der ungebrochenen Fülle
deiner Liebe.